gespenst


Gevatter Tod hat auch Elvis bei der Hand genommen und man möchte gerne fragen, wohin er mit ihm zieht. Mit ihm und der ganzen Menschenkette zwischen sechzehn und vierzig, dahingerafft von diesem gierigen Virus. Man kann unmöglich in Kashikishi arbeiten und sich nicht mit dem Schreckgespenst HIV auseinandersetzen. 80-90% auf der medizinischen Abteilung haben einen positiven HIV-Status, haben AIDS in seinen furchtbarsten Formen. Lungen- und Hirnhautentzündung, grosse Augen, die umgeben von Haut und Knochen ins Nichts starren, bis sie nach wenigen Tagen oder Stunden ihren letzten Atemzug tun können. Eine Generation die sich ausrottet, die wegstirbt wie die Fliegen. Manchmal ist es ein stilles Sterben, manchmal ist es ein regelrechtes Verrecken unter fürchterlichen Schreien. CD4-Zellen zwischen 9 und 150, in 3 Wochen gibt es um die Dreißig neu entdeckte Infektionen ­- Gonorrhoe und Syphyllis als treue Begleiter. Die meisten kommen erst dann ins Spital, wenn das letzte Stündchen auch für nicht medizinisch Gebildete offensichtlich wird. Auf dem Rücken von Brüdern oder Onkeln, man möchte gar nicht wissen, wieviele Stunden sie so zu Fuss unterwegs waren...bei Ankunft im Spital the patient collapsed.
Man möchte sich fragen, warum dieses Elend grösser und trotz Therapien und Aufklärung nicht kleiner wird, das Land einer Flutwelle gleich überrollt wird. Einmal mehr möchte man die afrikanische Kultur, insbesondere ihre Denkweise besser verstehen oder zumindest nachvollziehen können. Naheliegend, dass ein Analphabetismus dieser Grössenordnung bereits die Hälfte des Übels erklären mag – aber was ist mit der gebildeten Schicht, die Englisch spricht oder dem ganzen Medizinalpersonal, welches die Krankheit genauso tabuisiert oder gar leugnet.
Es ist nicht so, dass es keine Möglichkeiten gäbe. Die Bevölkerung hat die Möglichkeit, kostenlos an Kondome zu kommen. Benutzt werden sie in erster Linie von Kindern: sie eignen sich zum Spielen,
besonders gerne werden sie dafür verwendet, Fussbälle zu basteln (mehrere Kondome werden in einen Plastiksack gegeben und mit einer Schnur umwickelt). Es gibt HIV-Kliniken, in denen die Patienten kostenlose Therapie und Beratung erhalten.
Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass man als Mann gesunden kann, wenn man mit einer Jungfrau schläft. Wahrscheinlich ist es für eine Frau nie ansteckender, wie im Moment der Defloration. Die traditionellen Heiler oder der Witchdoctor füllen das Kondom mit Wasser und erklären den Wissensdurstigen, dass das Muster, welches sich aus der Mischung von Wasser und Gleitmittel ergibt, die Wurzel allen Übels ist, dass sich dort in diesen Strukturen das böse Virus versteckt. Was also kann es in den Augen eines wenig gebildeten Afrikaners schlimmeres geben, als ein Kondom zu benutzen ? Mit der Bildung kommt die Scham und mit dieser die Verdrängung. Auch keine einfacheren Gegner.
Die sechzehnjährige Prudence (die Patientin mit der Lungenentzündung und nach Geburt ihres ersten Kindes), sie ist selbst noch ein Kind. Beim sprechen blickt sie nur auf den Boden, lächelt schüchtern. Sie nimmt ihre Medikamente nicht, obwohl sie damit sich selbst und ihr Kind gefährdet, sie geht nach Hause und erzählt ihrer Tante nichts von der Diagnose während der Schwangerschaft. Obwohl ihre Mutter entweder schwer krank oder bereits an HIV gestorben ist– es ist nicht eindeutig herauszufinden. Der Vater des Kindes – some fisherman – lässt sich, seit er die Diagnose weiss, nicht mehr blicken; sein HIV-Test war negativ. Vor der Entlassung der Versuch, in einfachen Worten die Zukunft zu skizzieren: ein Leben lang krank, regelmässige Besuche in der HIV-Klinik, jeden zukünftigen Partner informieren, immer Kondome verwenden. Keine weiteren Kinder mehr, besser auf die eigenen Gesundheit ohne Mann achten. Prudence spricht kein Englisch, Fragen hat sie keine – wie die meisten Patienten hier. Viele Kinder, möglichst vaginal geboren gehören je ärmer desto mehr zum Leben einer Frau. Für eine vaginale Geburt nimmt die Frau, wahrscheinlich unwissentlich, mit Hilfe der traditional Healers oft den Tod in Kauf – die Wehen fördernden Kräuter lassen die Gebärmutter reissen, insbesondere wenn die Frau schon vorher einen Kaiserschnitt hatte. In der Regel stirbt das Kind; wenn die Blutung in die Bauchhöhle zu stark ist, auch die Frau.
Die sambische, wahrscheinlich auch die übrige afrikanische Kultur, kennt keine Zukunft, keine Planung für dieselbe. So erklärt es uns der Pfarrer. Er möchte gerne nach Australien, weil die Menschen Gott da schon besser kennen (möge er nicht an der east coast zwischen Massenbesäufnis und wet T-shirt contest landen). Die afrikanische Kultur lebt im Jetzt und in der Vergangenheit. Auffällig ist, dass diejenigen welche nur gefühlte drei Worte Englisch sprechen, für Gestern in der Regel das Wort tomorrow benutzen. Es kommt einem vor, als gäbe es für den morgigen und all die folgenden Tage nur ein kümmerlich ausgebildetes Bewusstein. Es bleibt die Frage, wie man mit einer völlig anderen kulturellen Erziehung, einem anderen Verständnis von Raum und Zeit, Konsequenzen – insbesondere solche für die fernere Zukunft – begreiflich machen soll.
Wie so oft, bleibt auch hier der Gedanke an die zwei Seiten der Medaille. Mehr Heute und weniger Morgen wäre für manch einen Zuhause ein Segen.
Krankheiten und andere Schicksalsschläge kommen als Folge der Vergangenheit, oder weil einem Schlechtes gewünscht wird. Damit letzteres passiert, reicht es, aus der dörflichen Gemeinschaft hervorzustechen, besser situiert zu sein, als die Anderen. Mit Hilfe des Witchdoctors wird dafür gesorgt, dass Schlechtes widerfahren soll. Es gibt also keinen Anreiz nach vorne zu streben, in der Gesellschaft aufzusteigen – man zieht damit nur das Böse an. Die junge Generation erhält andere Inputs, ganz leise und langsam hat der Wandel schon begonnen.
Diese Aufzeichnungen erheben keinen Anspruch auf eine allgemeingültige sambische, oder gar schwarzafrikanische, Realität. Sie sind lediglich Spiegel des Alltags im ländlichen Kashikishi am Ende der Strasse. Vor allem der Realität des Spitalalltages. Dort, wo Patienten zu Tode geprügelt abgeliefert werden, weil sie versucht haben eine Ziege zu stehlen. Zehn Minuten Autofahrt von hier gibt es ein Gefängnis mit Rechtssprechung. Dort, wo der Arzt noch gleichzeitig Rechtsmediziner ist und Schussverletzungen untersuchen muss, weil von der Polizei gewünscht. Keine Ahnung, ob es in Sambia eine Rechtsmedizin gibt, Pathologen gibt es zwei für das ganze Land.