Im OPs gibt es glücklicherweise Dr. Radet. Die
Frauen sind zierlich und eher klein gewachsen, einen Stift zum Einzeichnen –
die Frage danach erübrigt sich. Auf dem Set gibt es einen (!)
Laparotomie-Haken, Roux oder Blasenhaken – wer braucht schon so einen Luxus.
Dauerkatheter sind seit zehn Tagen out of stock. Die Klemmen machen ihrem Namen
alle Ehre und klemmen in jede Richtung, das Schneiden mit der Schere ist eher
ein säbeln. Nie habe ich ein Kind in einer stinkenderen Suppe schwimmen
gesehen.
Anschliessend versterben im Gebärsaal die zu früh geborenen
Zwillinge, einer nach dem anderen mit 900 und 1200 Gramm Geburtsgewicht. Die
Kinder werden begraben, wie auf Nachfrage zu erfahren ist. Irgendwann steht
eine alte Afrikanerin in ihren bunten Tüchern mit dem geliehenen Spaten mitten
im Gebärsaal – sie bringt ihn nach getaner Arbeit zurück. Der Spaten gehört zum
Gebärsaal-Inventar. Es gibt wohl eine Isolette für die Kleinsten, aber nicht
ausreichend Strom, der Generator wird fürs Theatre gebraucht. Der Gesamtspital-Generator wird nicht benutzt – ein Problem der
Benzinmenge. Hier brennt es an so vielen
Enden – Ohnmachtsgefühle und Hilflosigkeit nehmen exponentiell zu. Für den heutigen
Morgen ist der Bedarf gedeckt.
Mittags hat Eva, die gute Seele unserer Reise, eine
Überraschung bereit. Ein Bett aus Holz mit richtigen Latten und ohne Badewannen-Liegegefühl - den Nonnen abgeknüpft.
Meine reizüberfluteten Sinne hatten es glatt verpasst. Eva und Tommi, beide
bereits mehrfach Kashikishi erprobt, verbringen die erste Woche mit uns. bewirten die spende willigen Rotarier aus der Schweiz, führen sie herum und
regeln als Vertretung des Basler Fördervereines mit Sister Regina tausend
Dinge.
Gewöhnungsbedürftig sind unsere Hausangestellten (neben der
Tatsache, überhaupt solche zu beschäftigen). Da gibt es Benis, den
Nachtwächter, der nachts vor unserem Haus im Stuhl schläft. Er wurde freundlich
gebeten, die gefallenen Mangoblätter nicht um vier Uhr morgens von der roten
Erde vor unserem Schlafzimmer zu fegen. Tagsüber arbeitet er im Youth Center.
Seine Augen leuchten, als er vernimmt, dass er nun für drei Monate Lohn erhalten
wird. Armut und Arbeitslosigkeit liegen sich hier in den Armen.
Und dann ist da noch Maxon – unser Problemkind. Er ist unser „Hausboy“ – füllt Wasser auf, putzt, wäscht die Kleider, kauft ein
und verbrennt den Müll in einem Loch im Garten...bisher alles mehr schlecht als recht. Immer
stinkend und mehr oder weniger angetrunken – ein manifestes Alkoholproblem auf
zwei Beinen. Der halb verbrannte Müll wird von Wind und Schildraben wieder im Garten verteilt, Geld wird nach dem einkaufen behalten. Reinlichkeit ist für den eigenen Körper und die Umgebung gleichermassen ein Fremdwort.
Nach der ersten Zurückhaltung mit dem Gefühl, Afrika müsse
vielleicht dreckig, stinkend und elend sein, sowie nach dem ersten Sortieren
von tausend Eindrücken wird entschieden, dem Swiss House zu mehr Oasen-Gefühl
zu verhelfen - es gibt einen Unterschied zwischen einfachen Verhältnissen und
Dreck mit fehlender Sorgfalt. Das Haus ist eine Durchlaufstation für Studenten,
die einen Monat hier weilen und dementsprechend sieht es auch aus. Auf Hilfe
ist man angewiesen, wenn man vorhat, Zeit im Spital zu verbringen. Ansonsten
sind Haushalt und Körperpflege wie vor hundert Jahren ein tagesfüllendes
Programm. Schnell scheint hier nicht zu existieren (nach zehn Tagen habe ich
das erste und einzige Mal jemanden in Zeitlupe rennen gesehen). Bereits eine einfache
Tätigkeit, wie Hände waschen oder aufs WC gehen ist eine zeitraubende Angelegenheit
ohne Wasser im Haus.
Nach einer halben Woche und dem wälzen von vielen Gedanken
ist es nicht mehr auszuhalten und entschieden. Maxon muss sich bessern, oder er wird ersetzt (wenigstens ist das die Idee). Jana’s Klarheit und Direktheit – beides immer mit Respekt
und Wohlwollen gepaart, haben meine grösste Bewunderung. So erfährt Maxon, dass
er in Zukunft geduscht und weder stinkend noch betrunken zur Arbeit kommen
darf. Nach dem Einkaufen soll das Restgeld zurückgegeben werden und die aufgetragenen
arbeiten sollen auch erledigt werden. Alles muss kontrolliert und Putzutensilien müssen erst einmal angeschafft werden. Im Verlauf der ersten
Woche wird klar, dass wir gerade zu
einer ambulanten Alkoholentzugs-Einrichtung geworden sind.
Das Missions-Spital wird von katholischen Nonnen geführt (das Geld kommt - oder auch nicht - vom Staat), der verlängerte Arm des Papstes und gleichzeitig das dritte Auge
im Spital ist Sister Regina. Eindeutig eine respektable Persönlichkeit alter
Schule, der Weg für jegliche Anliegen führt über sie. Etwas erstaunt vernehmen
wir, dass Maxon im Kloster nicht mehr „gebraucht“ werden konnte – also ab ins
Swiss House mit ihm !? Über Sister Regina erhalten
wir einen Klempner und nach zwei Wochen ist dann auch die Sache mit dem
Internet geklärt. Jetzt funktioniert es sogar daheim. Die Oase wird von Tag zu Tag mehr: das Klopapier liegt nicht mehr im Dreck am Boden, im Vorratsschrank muss keine Auswahl mehr zwischen Mäusedreck und Reis getroffen werden, Maxon verursacht kein frühmorgendliches Würgegefühl mehr und scheint nicht mehr zu trinken...wir werden es kaum übers Herz bringen, ihn jemals zu entlassen.
Am Abend verhält es sich in der Regel so: nach all dem Dreck
und Gestank führt kein Weg an einer gemütlichen kalten Dusche vorbei. Nachdem
der Klempner da war und Dusche sowie Lavabo zum funktionieren gebracht hat,
gibt es eine hauseigene Tropfsteinhöhle. Vorausgesetzt das Wasser fliesst,
tropft die Leitung beständig und das plätschern bei der Füllung des Spülkastens
erinnert an einen kleinen Bergbach. Beim Duschen im matten Schein einer kleinen Leselampe
kommt das Gefühl einer stimmig beleuchteten Unterwassergrotte auf. Zurzeit
läuft es auf ein entweder oder hinaus - Wasser oder Strom. Die dreckigen Wände und der alte Tisch wurden mit einem
Citenge verschönert. Das sambische Tuch in allen Farben und für jede Lebenslage: Wickelrock, Kopftuch oder Tragtuch für die Kleinkinder, als Unterlage während der Geburt, als Ersatz für sterile Gazen...und was einem sonst noch alles so einfallen mag.
Trotz vielen Reisen an viele Orte dieser Welt hat das Wort
Kulturschock in meinem Leben erstmals eine Bedeutung erlangt.
Abends gibt es nichts tröstlicheres, wie wenn der Wind im Mangobaum die
Blätter durchstreift – er erzählt seine eigenen Geschichten und lässt all die irrsinnigen Bilder des Tages ein wenig zur Ruhe kommen.